Untertitel: FlussUferÖkologie: Edaphische Veränderungen (Bodenmaterial und Bodenstruktur) wesentlich problematischer als "Klima-Erwärmungsfaktoren"
Teil eines Vortrages bei der EMCA-Tagung (Budapest, 2011) von Bernhard Seidel, am 5. Mai 2012 als Interview an die APA
Der Bau von Kraftwerken hat nach den Studien des Ökologen Bernhard Seidel tiefgreifende aber bisher wenig beachtete ökologische Veränderungen in der unmittelbaren Umgebung der entsprechenden Flüsse bewirkt. Der Grund dafür liege darin, dass es sich bei diesen Flüssen wie etwa der Donau, um Gebirgsflüsse handelt, die kontinuierlich grobe wie auch feine Materialien mit sich führen. Durch die Kraftwerke werde der kontinuierliche Transport von größeren Partikeln gänzlich gestoppt, während sich die Feinsedimente schon kilometerweit vor den Barrieren am Boden absetzen, wodurch "riesige Schlamm - und Feinsedimentbänke" entstehen.
Im Falle von Hochwasser-Abflüssen würden Teile der Ablagerungen durch die vorübergehend höhere Schleppkraft des Wassers mitgerissen und diese würden sich in ruhigeren Zonen wieder absetzen - also in überschwemmten Siedlungs- und Auwaldgebieten außerhalb des Flussbetts. Diese Feinsediment-Ablagerungen können "manchmal meterhoch" werden, wie Seidel im Gespräch mit der APA erklärte.
Schadensbilder sind aus betroffenen Ortschaften entlang der Donau bekannt. In naturnahen Überschwemmungsgebieten werden sie nach wie vor ignoriert, was dort aber zu einer zunehmenden Versandung und Auflandung der Böden und Verschlammung und Verlandung von stehenden Gewässern mit weitreichenden Folgen für die Ökologie führt, wie Seidel betonte.
Als Konsequenzen nennt Seidel, dass zahlreiche ehemals temporäre Gewässer von Augebieten nach Hochwasser nun langfristig das Wasser halten, da ein Abfließen durch den verdichteten Boden zum Grundwasser hin unterbrochen ist. In diesen somit permanent gewordenen Rinnen und Gräben vollzog sich in den letzten Jahren eine Veränderung von Lebensformtypen der Stechmückenfauna, wobei die typischen Überschwemmungsgelsen der kurzzeitigen Hochwasserereignisse nun von solchen Arten gleichsam abgelöst werden, die mehrere Generation pro Saison erzeugen können, weil sie ihre Eier auf permanente und stehende Wasserflächen ablegen.
Im Landbereich bewirkt das vermehrte Feinsediment, dass es zu Aufhöhungen kommt, die lebenswichtige Strukturen und ursprüngliche Bodenverhältnisse grundlegend und gravierend verändern. Seidel führt erneut Stechmücken an, und zwar nun die klassischen Auengelsen, deren Eigelege an trockenen Stellen oft jahrelang auf Hochwasser warten können. Die massenhaft vorhandenen Eistadien werden schon unter geringen Lagen von Sand zerstört. Man könnte sagen, das ist wohl kein Schaden, diese Plagegeister auszumerzen, jedoch ist es ein deutlicher ökologischer Hinweis Bioindikation- auf die Schadenswirkung des Feinsediments. Als weitere Bio-Indikatoren hat Seidel Amphibienbestände vorzuweisen, die in ihren Winterverstecken Großteils durch Sand von Winterhochwasser verschüttet wurden, also beinahe ganze Populationen von Rote-Liste-Arten bzw. von Arten der europäischen FFH-Richtlinie wurden ausgerottet. Zudem findet man an solchen Standorten eine stark entfremdete Bodenfauna, die nicht mehr zur Umarbeitung des Falllaubes zu Humus in der Lage ist, weil nur noch sandlaufende und grabende Arthropoden-Formen lebensfähig sind, die sich weitgehend räuberisch ernähren. Es herrschen Arten- und Strukturarmut vor und eine Übersäuerung des Bodens ist die Folge mit Konsequenzen für die typische Auenvegetation wie auch für die forstlich viel genutzten Weichhölzer.
Bereits 1992 hat der Ökologe bei Untersuchungen in der Wachau den Verlust von 80 Prozent der von ihm untersuchten Amphibien durch Einsandung herausgefunden. Damals interpretierte Seidel das als Zeichen dafür, "dass da etwas stattfindet, was absolut nicht natürlich ist". Bereits 1996 verwendete er den Begriff von der fehlenden Ökologischen Funktionsfähigkeit, ein juristisches Faktum, das dringenden Handlungsbedarf der obersten Wasserrechtsbehörde erfordern würde. Obwohl man eine breite Aufklärungskampagne unter dem Motto FlussUferÖkologie organisierte, darunter befand sich sogar eine Ausstellung im Donau-Museum Orth/NÖ sowie eine international besuchte Tagung in Krems, wurden die offensichtlichen Zeichen ignoriert. Eine Fehlleistung der zuständigen Behörden wie es sich bei den beiden großen Hochwasserereignissen im Jahr 2002 katastrophal zeigen sollte, denn es hätten damals und inzwischen Milliardenschäden und Fehlinvestitionen vermieden werden können, so die Meinung des Experten
Die Stechmücken werfen mit dem Nichtfunktionieren der Ökologie aber noch einen unerwarteten hygienischen Aspekt auf. Denn die so genannten Wald- und Hausgelsen, waren früher in den Augebieten zahlenmäßig relativ unbedeutend gewesen, da sie in den Auen "nichts zu Überwintern hatten". Sie würden heute aber an frostsicheren Stellen im angrenzend verbauten Gebiet überleben und die großen neuen aber unnatürlichen Angebote zur Eiablage dankbar und massenhaft annehmen. Die Vervielfältigungsrate im Vergleich zu früher muss im Bereich mehrere Zehnerpotenzen angesetzt werden. Da sie sich zudem auch noch ganzjährig fortpflanzen, sind sie auch epidemiologisch "extrem problematisch", meint Seidel. Die Tiere würden mehrmals im Jahr Blut saugen und sich dabei mit vormals exotische Krankheiten, wie dem West-Nil-Virus, in unseren Breiten durch Zugvögel aus Afrika infizieren, es über die Generationen rasch und massenhaft weitervermehren und es zudem "über den Winter bringen".
Das vermehrte Auftreten dieser Stechmücken ist für den Wissenschafter der letzte Nachweis in einer Reihe von Indikator-Beweissicherungen für tiefgreifende ökologische Veränderungen in Regionen staugeregelter Flüsse. Man habe das ganze Donautal "grundlegend verändert" und ökologisch weitgehend ruiniert, jedoch in den Planungen und in den bisherigen Diskussionen diese Sachen nicht thematisiert. Ich hoffe nur, dass ich richtig interpretiert werde, und man nicht meint, mir ginge es hier um meine Indikator-Frösche und um meine weniger lieben Stech-Mücken, sagt Seidel, denn die Auswirkungen sprengen längst den Rahmen des Umweltverträglichen und des Zumutbaren im Öffentlichen Interesse des Wasserrechtes. Es geht nämlich inzwischen um fehlende Kubatur für die Hochwasser-Retention, um fehlenden Flusslaufquerschnitt für den Hochwasserabfluss, um Veränderungen in der Begleitstrom- und Grundwasserdynamik, um die Wiederherstellung verschmutzter urbaner Infrastruktur sowie der ökologischen Funktionsfähigkeit in den Restaugebieten und um ein unwissentlich künstlich erzeugtes Hygieneproblem mit heimischen Gelsen als Vektoren von Krankheiten. Eine versierte ökologische und ökonomische Aufarbeitung dieser Problematik ist im hohen Maße überfällig ", so Seidel.